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Zwischen Dauererektion und Erektionsschwäche

- Wie viel Sex ist „normal“?

Aus der Reihe Sexualstörungen in der Praxis

Zu viel oder zu wenig Sex – diese Frage hat schon Generationen beschäftigt. Auch in unserem Beitrag geht es um die beiden Pole. Sexualtherapeut Volker van den Boom stellt einem Patienten mit Dauererektionen einen solchen mit passageren Erektionsstörungen gegenüber.

Frage eines Hausarztes aus Stolberg:

Schon lange betreue ich als Hausarzt einen heute 62-jährigen, verheirateten Mann, der vor zwei Jahren einen Apoplex erlitt. Seither leidet er unter starken, andauernden Ängsten und Sorgen um die alltäglichen Dinge des Lebens, obwohl er ansonsten in keiner Weise eingeschränkt ist. Immer wieder wirft er die Frage auf „Was macht eigentlich noch Spaß im Leben?“ Die verordneten Antidepressiva setzte er aus eigener Entscheidung ab und teilte mir mit, dass er sich lieber schlecht und depressiv fühlen will als die ständige Benommenheit zu tolerieren. Seit einem Jahr eskaliert seine Symptomatik nun dahingehend, dass er ständige sexuelle Lust verspüre und andauernd Erektionen habe, wodurch er sich gequält fühlt. Selbst gerade erfolgter sexueller Kontakt mit seiner Frau bringt ihm keine Erleichterung. Zudem quält er sich noch damit, dass seine Lust nicht auf seine Frau beschränkt ist, sondern sich wahllos auf jede Frau richtet, die ihm begegnet – egal, ob sie ihm gefällt oder nicht. Er empfindet sich selbst dadurch als pervers und ekelhaft. Bisher ist mir ein solcher Fall noch nicht begegnet, und ich habe keine Erklärung für eine solche Symptomatik. Ich weiß nicht, wie der Patient sich wieder in den Griff bekommen und normal werden kann. Wenn Sie dazu eine Idee oder einen Tipp haben, wäre ich Ihnen sehr verbunden.

Antwort:

Auch für mich als Sexualtherapeut ist die Fallgeschichte, die Sie hier vorstellen, recht ungewöhnlich. Vielleicht ist sie aber nur deshalb so ungewöhnlich, weil nach Schlaganfällen und Herzinfarkten Männer einfach nicht die Angewohnheit haben, über ihre seelische Befindlichkeit nach diesem tiefen Einschnitt in ihr Leben zu reden. Demnach könnte es gut möglich sein, dass wesentlich mehr Männer solche oder ähnliche seltsame Symptomatiken entwickeln, als wir Fachleute dies glauben. Immerhin haben diese Männer todesähnliche Erlebnisse gehabt; danach im Krankenhaus haben sie dann zum ersten Mal in ihrem Erwachsenenleben die Erfahrung der absoluten körperlichen Hilflosigkeit und des totalen Angewiesenseins auf Hilfe von Dritten (z. B. bei der Körperpflege, Ernährung) machen müssen. Beides sind Erlebnisse, die unserer Vorstellung von Männlichkeit absolut entgegenstehen und bei den betroffenen Männern Unsicherheiten und Selbstwertproblematiken auslösen können. Hinzu kommt in aller Regel auch noch die Angst vor erneuten körperlichen Attacken, die die ausgelöste depressive Tendenz („Was macht überhaupt noch Spaß am Leben?“) schnell verstärken kann. So auch bei Ihrem Patienten: erst nach dem Schlaganfall begann er, die Sinnhaftigkeit des Lebens anzuzweifeln. Seine Frage nach dem „Spaß am Leben" bedeutet ja nichts anderes, als dass ihm angesichts seiner erlebten Sterblichkeit und damit des plötzlich in die Nähe gerückten Todes der Sinn und Zweck für ein Weiterleben abhanden gekommen ist. Die abwärts laufende Spirale negativer Gedanken ist damit angestoßen und verstärkt die bestehende resignative Haltung. Infolge dessen beginnt Ihr Patient, die Welt nur noch negativ und sinnlos zu sehen. Schon morgens sieht er keinen Grund mehr, den Tag mit Elan anzugehen und macht sich um alltägliche Dinge so viele negative Gedanken, dass er von Sorgen und Ängsten geplagt wird. Seine Gedankenwelt wird also von Sinnlosigkeit und Negativem beherrscht. Anders dagegen – und sehr offensichtlich – spricht der Körper Ihres Patienten zu ihm. Beständig meldet er sexuelle Bedürfnisse bei ihm an und weist ihn in seiner „Geilheit“ darauf hin, dass er Spaß am Leben haben möchte („geil“ bedeutet ursprünglich „kraftvoll, üppig, lustig, fröhlich“). Da dieser Appell mit der negativen Denk- und Sichtweise Ihres Patienten nicht kompatibel ist und dort auch entsprechend wenig Anklang findet, „reagiert“ der Körper, indem er sein Anliegen noch deutlicher und heftiger „vorträgt“. Der Spalt zwischen Verstand und Körper wird so immer tiefer: Bildlich gesehen graben beide Seiten sich in ihren Stellungen ein und bewirken so eine Verhärtung der Situation. Ein erster Schritt auf dem Weg zu einer Lösung seiner Misere bestünde für Ihren Patienten darin, die geschilderte Gegensätzlichkeit anzuerkennen und zu sehen, dass der Körper „Lebe!“ sagt und er mit einem „Ach nein …“ antwortet. Eine Gesundung im Sinne eines Ausgleichs zwischen beiden Seiten würde dann voraussetzen, dass er in einem zweiten Schritt die deutliche Ermunterung seines Körpers annimmt und Stück für Stück damit beginnt, seinen Alltag und sein Leben wieder (lebens-)froher zu gestalten. Innerhalb kürzester Zeit wird er beobachten können, wie sowohl die depressive als auch die sexuelle Symptomatik verschwinden wird und sein Leben für ihn wieder einen Sinn bekommen hat.

Frage einer Gynäkologin:

Eine langjährige Patientin, 40 Jahre alt, erzählte mir bei ihrem letzten Untersuchungstermin, dass ihr neuer Partner – mit dem sie seit einem halben Jahr zusammen sei – beim gemeinsamen Sex Erektionsprobleme habe. Das wäre aber nicht jedes Mal so, sondern nur ab und an. Sie hätten schon gemeinsam versucht herauszufinden, woran das liegen könne: Es ergäben sich aber keine Verbindungen zu dem Bierchen, das er manchmal trinkt, oder zu besonders stressigen Vorkommnissen auf seiner Arbeit (er ist selbständiger Maler). Nur wenn es mal Streit in der Beziehung gäbe, dann hätte er meist noch Tage danach Schwierigkeiten, „ihn“ in voller Erektion halten zu können. Nun habe ich hier im vor einem Jahr von Ihnen gelesen, dass Erektionsstörungen in aller Regel etwas mit der Vater- Sohn-Beziehung des betroffenen Mannes zu tun haben. Ist das hier auch der Fall?

Antwort:

Jede Regel hat natürlich ihre Ausnahmen. Ihre Schilderung erinnert mich an einen Patienten mit einer ähnlichen Problematik. Bei ihm stand oder fiel die Erektion mit dem Ausmaß der von ihm erlebten liebevollen Nähe in seiner Partnerschaft: Je größer er die Distanz zu seiner Frau erlebte, je kühler seine Frau also im Umgang mit ihm war, desto größer waren seine Schwierigkeiten, eine Erektion bekommen bzw. halten zu können. Umgekehrt bewirkten ein verständnisvoller Umgang sowie körperliche und seelische Nähe zwischen beiden Partnern, dass er ohne Probleme erektionsfähig war. Insofern ist es nachvollziehbar, dass ich beide Partner gemeinsam zu einem Termin einbestellte, um mir ein Bild von ihrer Beziehungsqualität sowie ihrer Umgangsweise miteinander machen zu können. Mein Eindruck vom Mann war geprägt von einer großen Bedürftigkeit nach Liebe, Bestätigung und körperlicher Nähe, die er jedoch in eher drängelnder Form an seine Frau heranzubringen versuchte. Seine Frau dagegen machte einen eher abweisenden, leicht unterkühlten Eindruck auf mich. Darauf angesprochen, bestätigte sie dies mit den Worten, sie sei eben nicht so ein schmusiger Typ. Außerdem habe sie in ihrer Kindheit schlimme Erfahrungen mit Männern gemacht. Infolgedessen habe sie Schwierigkeiten, sich auf Körperkontakt einlassen zu können. Sie sei deshalb in Therapie, und das ganze Thema hätte sich ja auch schon etwas gebessert. Auf diesem Hintergrund ist es verständlich, dass der Mann in emotionaler Hinsicht nicht richtig satt werden kann: die – ebenfalls verständliche – Kühle seiner Frau versteht er als ein „Sie mag mich nicht!“ und fühlt sich zurückgestoßen; bei Annäherungsversuchen bleibt er ungesättigt zurück – er reagiert jammernd und seine Bedürfnisse einklagend; dies wiederum empfindet seine Frau als bedrängend und fordernd, was sie innerlich abstößt und auf Distanz gehen lässt. Der Kreislauf ist geschlossen. Zunächst zeigte ich dem Paar die Grundregeln einer konstruktiven Kommunikation: Anstelle von Aussagen über den anderen lieber von den eigenen Gedanken und Gefühlen sprechen; dem anderen oft mitteilen, was und wie man ihn verstanden hat und jeweils nachfragen, ob man ihn richtig verstanden hat; die Wörter „man, sollte, immer, nie, muss“ möglichst vermeiden. Sie bekamen entsprechende Übungsanweisungen mit nach Hause, deren Wirkung in monatlichen Paargesprächen überprüft und korrigiert werden konnte. Parallel arbeitete ich in Einzelgesprächen mit dem Mann an seinem „Beitrag“ zu der Situation in ihrer Partnerschaft. Hier ging es vor allem darum, dass er, anstelle auf „Gefühlseinheiten“ von seiner Frau zu warten oder gar darauf zu drängen, sich besser damit beschäftigen sollte, wie er sich selbst mehr Gutes tun könnte. Unter der Prämisse, die Lebenssituation seiner Frau so anzunehmen, wie sie ist („Sie kann mir eben zur Zeit nicht mehr geben“), wurde es ihm einfacher, die Kühle seiner Frau nicht als ein Wegstoßen oder eine Ablehnung seiner Person gegenüber zu sehen. Vielmehr begann er unter meiner Anleitung, ein „Notprogramm“ zu entwickeln mit dem Ziel, sich selbst möglichst viele Situationen zu schaffen, in denen er von sich aus seine Emotionen stärker ausleben und wahrnehmen konnte. Dass dieser Versuch, seine Bedürfnisse gegenüber seiner Frau kompensieren zu können, durch die Wiederbelebung eigener Emotionen nicht umfassend erfolgen kann, ist selbstverständlich. Mein Patient fand jedoch heraus, dass er zumindest so viel Zufriedenheit (auch im Sexuellen) sich selbst verschaffen konnte, dass er nicht mehr drängend auf seine Partnerin einwirken musste. Das wiederum schaffte ihr den Freiraum, im Rahmen ihrer Therapie die Grundproblematik ihrer Kühle in Ruhe aufarbeiten zu können. So gelang es ihr, immer mehr von ihren liebevollen Gefühlen ihrem Mann gegenüber diesem auch zeigen zu können. In Reaktion darauf und infolge der verbesserten Kommunikation zwischen beiden erlebte ihr Mann mehr liebevolle Nähe und seine Erektionsprobleme verschwanden. Für den hier von Ihnen vorgestellten Fall bedeutet die Geschichte meines Klienten, dass auch für Ihre Patientin und ihren Mann Paargespräche von großer Wichtigkeit sein werden. Dies trifft vor allem unter dem Aspekt zu, dass der Mann ja vor allem dann Erektionsprobleme hat, wenn es Streit in der Beziehung gegeben hat. Das von mir vorgestellte Kommunikationstraining wäre für die beiden sicher von Vorteil: Sie könnten so lernen, mit Verstimmungen und Missverständnissen so umzugehen, dass daraus kein Streit entstehen wird. Das wiederum würde dem Mann ein höheres Maß an Sicherheit in Bezug auf die Liebe seiner Frau zu ihm geben. Darüber hinaus wächst dadurch das Vermögen des Mannes, auf Spannungen nicht mit Flucht oder Rückzug (Erektionsschwierigkeiten) reagieren zu müssen, sondern in der konkreten Situation der Auseinandersetzung stehen bleiben zu können.

Volker van den Boom, Aachen


Dieser Text wurde erstmals in der Fachzeitschrift Der Hausarzt veröffentlicht.


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